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ARTIKEL: Auf den Spuren der irischen Mönche im frühen Mittelalter

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ARTIKEL Auf den Spuren der irischen Mönche im frühen Mittelalter_cotravel Reisen Erwin Koller

29. Mai 2016 von Erwin Koller

COTRAVEL REISE VOM MAI 2016 NACH FRANKREICH UND IRLAND

St. Gallen war der passende Ausgangspunkt für eine historische Reise, die uns durch Nordfrankreich bis nach Irland führte. Wir verfolgten den Weg zurück, den einst irische Mönche begingen und nach und nach eine mächtige Bewegung wurden, die tiefe Furchen in der europäischen Kultur- und Kirchengeschichte hinterliess. Bevor wir im September dieses Jahres mit cotravel eine andere Reise nach Westen unternehmen – den vielseitigen atlantischen Weg ganz im Norden Spaniens nach Santiago –, soll hier die Geschichte Columbans und der irischen Mönche nachgezeichnet werden.

Wer kennt sie nicht, die Geschichte von Gallus, der in der Wildnis des Steinachtobels einem Bären befiehlt, Holz für sein Feuer zu holen. Er tut es, bekommt dafür ein Stück Brot gereicht und zieht sich dann in die Berge zurück, wie vom Einsiedler geheissen. Es ist sozusagen die Gründungslegende der Stadt St. Gallen, die am Ort seiner Klause entstanden ist. Über 300 Klöster und zahlreiche andere Städte Europas verdanken sich ebenfalls solch sonderbaren Pilgermönchen von der fernen atlantischen Insel oder deren Schülern.

Das berühmte Vorbild ist Columban. Er bricht mit seinen Gefährten Ende des 6. Jahrhunderts vom nordirischen Kloster Bangor auf. Dutzende, ja Hunderte folgen ihm in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten. Häufig sind sie aus vornehmem Haus, erhalten in irischen Klöstern eine exzellente Ausbildung, verbunden mit einer tiefen Spiritualität und einer harten Askese. Ihre Lehrer knüpfen bei den ägyptischen Wüstenmönchen an, die im
3. Jahrhundert kompromisslos die Botschaft der Bibel umsetzen. Gerade weil es in Irland keine Christenverfolgung gibt, streben die Pilger nach einem unblutigen Martyrium: Sie verlassen Familie, Freunde und Heimat und gehen in die Fremde – wie schon Abraham.

KIRCHENARCHITEKTUR VON GROSSEN SCHWEIZERN

Einen ersten Halt machten wir – sozusagen am Wegrand nach Luxeuil – in Ronchamp. Da hat der Jurassier Le Corbusier vor 60 Jahren mit dem Bau der Chapelle Notre-Dame-du-Haut eine Ikone der modernen Kirchenarchitektur geschaffen, die noch heute beeindruckt. Was André Malraux beim Vergleich gotischer Dome mit ägyptischen Pyramiden feststellt, gilt auch von diesem Meisterwerk der Moderne: Es ist eine Münze des Absoluten. Im Süden von Paris begegnen wir später einem anderen, nicht weniger interessanten Kirchenbau eines Schweizers: der Auferstehungskathedrale in Évry, die Mario Botta in den 1990er Jahren gebaut hat, gewidmet dem irischen Mönch Korbinian.

COLUMBANS ERSTE KLÖSTER

Doch zunächst kommen wir nach Luxeuil-les-Bains, wo Columban vor 600 drei Klöster gegründet hat. Diese asketischen Gemeinschaften zählen bald über 200 Mönche. Auch Gallus ist einer, der hier Ausbildung und Formung bekommt. Nach wenigen Jahren jedoch überwirft sich der sittenstrenge Columban mit dem Herrscherhaus der Merowinger, das ihm Land für die Klöster gegeben und ihn vor Einmischungen des gallischen Klerus beschützt hat. Der eigenwillige Abt muss Luxeuil verlassen und gelangt mit einigen irischen Mönchen über viele Umwege nach Tuggen und Bregenz und schliesslich ins oberitalienische Bobbio, wo er das letzte Kloster gründet (vgl. Karte weiter unten). Gallus trennt sich von ihm und bleibt am Bodensee zurück.

DIE KELTEN UND DIE RÖMER

Auf dem Wodansberg (Vaudémont) begegnen wir den Spuren der Kelten – wie später in Nancy, Metz, Reims, Chartres und Caen, deren grossartige Kathedralen an Orten stehen, wo ebenfalls schon Kelten ihre Heiligtümer und Festungen gebaut haben. Die Gallier – wie die Römer die Kelten nennen – bevölkern im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung Europa von Spanien bis nach Kleinasien (Galater) und gelten als unerschrockene und kriegerische Stämme.

Hier in Nordfrankreich (bei Bibracte) kommt es zur grossen Entscheidungsschlacht zwischen den Kelten und dem Römischen Imperium: Im Jahr 52 v.Chr. besiegt Cäsar einen grossangelegten Keltenaufstand unter dem Heerführer Vercingetorix. In der Folge werden die einstmals für Griechen und Römer bedrohlichen Feinde immer mehr zurückgedrängt und können am Ende nur noch in Irland und in wenigen anderen Regionen am westlichen Rand Europas überleben. Dort integrieren die Kelten später sogar auf friedliche Weise das Christentum in ihre Kultur und in ihren reichen Wissensschatz. Ihre Priester, die Druiden, wirken als Lehrer der christlichen Mönche, ja einige werden sogar christliche Priester und Bischöfe.

KARL DER GROSSE UND DIE NORMANNEN

Das Überlappen verschiedener Kulturen kann für Städte, Regionen und ganze Reiche ein grosser Gewinn sein. 200 Jahre nach Columban holt Karl der Grosse mehrere irische Mönche – die besten Gelehrten seiner Zeit – an seinen Hof in Aachen. Alkuin ist erster Berater und Vordenker des neuen römischen Kaiserreiches, Clemens wird Leiter der Hofschule. Beide zusammen begründen die karolingische Renaissance und verpflichten die Klöster zu einer Bildungsoffensive, die Europa aus der kulturellen Zerrüttung der Völkerwanderungszeit herausholt und auch der Kirche nachhaltige Reformen verpasst.

Noch auf eine andere historisch-politisch-kulturelle Überlagerung stossen wir. Im 8. Jahrhundert drängen die Wikinger von Norwegen her nördlich der atlantischen Inseln nach Irland vor und richten gewaltige Schäden an, vor allem in den Klöstern, die auf Einfälle dieser Art nicht gefasst sind. Wenig später bedrohen andere Nordmänner – Normannen – das Frankenreich und das übrige Festland. Sie sind so stark, dass ihnen der Frankenkönig das Gebiet an der Seine-Mündung überlässt und sie so in das Feudalwesen zu integrieren hofft. Das Gebiet bekommt bald den Namen Normandie, und einer ihrer Herzöge, Wilhelm der Eroberer, besiegt 1066 sogar die Engländer und wird deren König. Er lässt dort mächtige und einschüchternde Kathedralen und Burgen bauen, derweil andere Normannen in Sizilien einen Staat sowie Kirchen und Paläste errichten, die Ausdruck eines intensiven normannisch-arabisch-byzantinischen Dialogs sind. Das dynamische Kriegervolk nimmt eben schnell das Christentum an und wird zu einem wichtigen kulturellen Faktor in ganz Europa, auch in Irland.

IRLAND MIT ANDEREN AUGEN

Wer die vielfältigen Zeugnisse keltischer und irischer Präsenz auf dem Festland gesehen und von ihren Schicksalen erfahren hat, fährt mit einem anderen Blick hinüber nach Irland, als wer nur einfach die grüne Insel besucht. Denn vieles, was wir auf dem Festland kennengelernt haben, hat dort seinen Ursprung. In Irland steht man am Ausgangspunkt jener leidenschaftlichen Mönche. Man lernt ihre Kirchen und Klöster kennen – manchmal sind es nur mehr Ruinen. Bei der Auseinandersetzung mit der frühmittelalterlichen Geschichte Irlands fragt man sich, wie es kommen konnte, dass zu jener Zeit Tausende von jungen Männern vom Festland herkamen, um hier eine wissenschaftliche und spirituelle Schulung zu erhalten. Die ungebrochene Bildungs- und Weisheitstradition der keltischen Christen Irlands war in der Tat einmalig in ganz Europa. Sie verdankt sich den grossen Protagonisten des irischen Christentums: Patrick, Brigid, Columkille, Enda, Brendan, Kieran, Comgal…

KONFLIKTE MIT BRITANNIEN UND DEM FESTLAND

Man ahnt, dass Menschen hier mit letzter Anstrengung in einer kargen Landschaft die Ideale der christlichen Botschaft gelebt und deren Verwirklichung ihrer Erdenexistenz abgerungen haben. Sie entwickeln unbeirrt eine eigenständige Theologie und ein auf der Klosterkultur gründendes Kirchenverständnis, das in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur kontinentalen Ausprägung des Christentums steht. Dies kommt etwa in der Praxis von Busse und Beichte, in der Auffassung vom kirchlichen Amt und nicht zuletzt in der Unbedingtheit ihres christlichen Lebensstils zum Ausdruck. Auf dem Kontinent führt dieser Konflikt im 8. Jahrhundert zu einem tragischen Streit zwischen Vergil, dem irischen Abt und Bischof von Salzburg, und Erzbischof Bonifatius, dem an Rom orientierten Angelsaxen und Apostel der Germanen. Ein autonomes Verständnis von Christentum kämpft gegen ein zentralistisches Kirchenkonzept. Damals erringt Bonifatius die Oberhand, doch vielleicht ist es ein Pyrrhus-Sieg, wenn man den Konsequenzen bis in unsere Gegenwart hinein Rechnung trägt.

Sogar der Nordirlandkonflikt hat eine seiner Wurzeln in der Kirchenpolitik des Papstes. Hadrian IV. ist hartnäckig bestrebt, das irische Christentum unter römische Kontrolle zu bringen. König Heinrich II. von England entspricht dem Wunsch seines Landsmannes (Hadrian IV. ist der einzige Engländer auf dem Papstthron), verlangt jedoch als Gegenleistung die Herrschaft über Irland, wozu der Papst einwilligt. Und so beginnt schon im 12. Jahrhundert eine rücksichtslose Kolonisierung und Unterjochung der Insel. Im 16. Jahrhundert versuchen die Engländer sogar, den Iren die Reformation Heinrichs VIII. aufzudrücken – freilich ohne Erfolg. In den folgenden Jahrhunderten und ausgeprägt im 20. Jahrhundert führen die politischen, sozialen und religiösen Verwerfungen zu blutigen Auseinandersetzungen. Erst im Karfreitagsabkommen von 1998 gelingt es, die Spannungen auf friedliche Bahnen zu lenken.

EINE GESCHICHTE MIT NACHHALTIGER WIRKUNG

Eine Reise besteht natürlich nicht nur aus der aufmerksamen Beobachtung der hier skizzierten Zusammenhänge und geschichtlichen Entwicklungen. Die Reiseberichte von Jolanda Huber bieten dazu wertvolle Ergänzungen (siehe Teil I: Frankreich und Teil II: Irland). Es dürfte jedoch ziemlich einmalig sein, dass sich eine Reisegruppe auf diese Weise Irland annähert und den Einfluss der irischen Mönche auf das europäische Festland im Auge behält. Wahrscheinlich haben weder der übliche Geschichtsunterricht noch die religiöse Unterweisung bisher erfasst, welch epochale Auswirkungen dieses kleine Land am Rand Europas auf die Geschichte der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends hatte. Man kann sie gewiss nicht einfach nachahmen, diese irischen Mönche. Jedes Jahrhundert muss eigene Methoden und Stile christlicher Existenz entwickeln. In der Ernsthaftigkeit und Unbedingtheit jedoch, mit der sie sich die biblische Botschaft zu eigen machen, sind diese Männer Leuchttürme christlicher Orientierung, ja sogar Münzen des Absoluten.

 

DER HISTORISCHE WEG DES HEILIGEN COLUMBAN UND SEINER GEFÄHRTEN

Die erste Reise führt Columban und seine Gefährten um 590 vom Kloster Bangor in Nordirland ins östliche Königreich der Merowinger (Neustrien), wo er in Annegray, Luxeuil und Fontaine drei Klöster gründen kann. Seine Verbannung um das Jahr 610 führt ihn – nach einem Schiffbruch vor der Bretagne – über Metz und Koblenz den Rhein, die Aare und die Limmat hinauf nach Zürich, Tuggen, Arbon und Bregenz. Um 612 reist Columban mit seiner Gruppe weiter nach Mailand, wo ihm der Langobardenherzog Agilulf für seine letzte Klostergründung den Ort Bobbio zuweist. Dort stirbt er 615.

Reiseroute von Columban gemäss Illustration von Les Amis de St-Colomban_cotravel Reise-Blog Erwin Koller

Reiseroute von Columban gemäss Illustration von http://www.amisaintcolomban.org/wordpress/le-chemin-historique-de-saint-colomban-et-de-ses-compagnons/

Uster, 24. Mai 2016, Dr. Erwin Koller

 

MEHR SEHEN, ANDERS ERLEBEN

Fotoalben zum Frankreich– und Irland-Teil der Reise.
Reiseblog Teil I und Teil II von Reiseleiterin Jolanda.
Nächste Reisen mit Erwin Koller: Camino del Norte und Auf den Spuren der Reformation.